Ali Baba und die 40 Räuber.
Stammtischrede zur Krise
Henrik Schrat, 02/2009

Es gibt nur einen Ali Baba, aber 40 Räuber, das hat mich immer erschreckt. Aber so, wie das Märchen läuft, arbeiten ja 40 Räuber daran, den Reichtum heranzuschaffen, der dann an Ali Baba übergeht. Nicht sofort, versteht sich. Vorher gibt es die Geschichte mit Cassim, Alis reichem und gierigem Bruder.
Um es gleich zu sagen: Die Vergleiche sind offen, aber alle scheinen irgendwie Sinn zu machen. Ob die Banken die Räuber sind, oder der gierige Bruder, oder ob aber der Staat auftaucht oder der persönliche Egoismus, der nach Adam Smith ja die Triebkraft des Gemeinwesens ist: Wir können diese Vergleiche ansetzen, und dies ist die Stammtischrede dazu: ungerecht, arrogant und mit viel Vergnügen.

Im Märchen gibt es zumindest einen sympathischen Gerechten, mit dem wir uns schön identifizieren können: Ali.
Er hört die Räuber kommen, flüchtet sich auf einen Baum, und wird Zeuge, wie mit dem Spruch „Sesam öffne dich“ der Berg zauberisch geöffnet wird, in dem die Räuber ihre Schätze lagern. Später geht Ali selbst hinein und bedient sich. Sein Bruder Cassim, reich und gierig, erfährt davon, und geht, um auch sich gestohlene Schätze zu stehlen. Soweit schon eine Menge Parallelen zur Realität, einer macht es vor, ein weiterer, möglicherweise etwas dümmer, macht es - im grossen Stil - nach. Cassim gelangt mit dem Zauberspruch in den Berg, aber vergisst den Spruch vor Aufregung und Gier, und bleibt bei all den Schätzen im Berg gefangen. Die zurückkehrenden Räuber töten ihn, schneiden ihn in Stücke, und stellen ihn aus, zur Abschreckung. Sein Bruder Ali jedoch bringt die Stücke seines Bruders heim, verbindet einem Schneider die Augen, und lässt ihn wieder zusammennähen, um ein Begräbnis zu veranstalten, wie es sich in der Gesellschaft gehört.

Ob man die Damen und Herren, welche die aktuelle Krise mit verschuldet haben, wieder zusammengeflickt und ihnen ein Begräbnis ehrenhalber gegeben wird, ist noch offen. Es ist auch keinesfalls ausgemacht, dass sie in Stücke geschnitten werden.
Wenn’s schief geht, ist es das System gewesen, Beamtenhierarchien oder Unternehmensabteilungen, am besten noch in Aktionärsbesitz, delegieren Verantwortung, bis sie nirgends mehr zu finden ist. Der Kleinaktionär will ja nur seine Rente sichern, dass hat ihm der Staat ja so beigebracht. So mag es unfair sein, Blythe Masters zu zitieren, und sie zu einem Gesicht der Krise zu machen. Die Frau, und endlich mal eine Frau, welche die Credit Default Swaps (CDS) als Mitarbeiterin von Goldman Sachs populär gemacht und aggressiv vermarktet hat, sagte am 28.10.2008, also nach dem ersten grossen Rutsch - auf dem SIFMA meeting : ‚Its probably save to say, that the image of our industry is at an all time low (...) Last time we where dancing to Hootie & the Blowfish but this time we will listen to the Harlem Voice Quire.’ Dass das Image der Banking-Industrie auf einem Allzeittief ist, war unschwer auszumachen, aber es macht natürlich Vergnügen, die verschiedenen kulturellen Zuordnungen zu sehen. Beim letzten Treffen wurde zu Hootie & the Blowfish getanzt, jetzt ist die Zeit eines Gospelchores aus Harlem gekommen. Zeit sich an die Brust zu schlagen, wie schlecht die Welt ist. Es ist wieder Sylvester, und man denkt über das vergangene Jahr nach.

Es konnte uns nichts besseres als die Krise passieren, soviel steht fest. Der Kapitalismus wird deswegen nicht verschwinden, aber wir haben eine Ethikdiskussion bekommen, die weit über die funktionalisierte Unternehmensethik hinausgeht. Die alte Wippe zwischen Milton Friedmans „Der Markt ist das beste Sozialprogamm, langfristig gleicht er alles aus“ und John Meynard Keynes Anwort „Langfristig – sind wir alle tot“ (d.h. der Staat muss intervenieren) dreht sich wiedereinmal in Richtung staatlichem Eingriff, und verfrachtet ökonomische Sachverhalte auf die politische und öffentliche Bühne. Vielleicht findet damit auch die Politik aus ihrer geräuschlosen Verwaltungsrolle heraus und Persönlichkeiten mit Überzeugungen und nicht Karrierebürokraten mit Effizienzdenken werden wieder sichtbar.
Aber weiter im Krisen-suhlen. Der Schritt vom Banker-buhen zur Gier an sich ist noch zu machen, und von dort weiter zur Universalherrschaft des Konsums und – des Zahlbefehls. Wenn sämtliche gesellschaftlich relevanten Werte auf Zahlungsversprechen zurückzuführen sind, braucht sich keiner wundern, wenn jeder mehr will.
Das gelobte Land wurde hinter Schaufensterscheiben verlegt. Ab und zu kommt ein Fensterputzer und wischt die Fettnasen von der Scheibe ab. Moses durfte auch nur vom Berg Nebo ins Gelobte Land sehen, es aber nie betreten. Im Zweifelsfall liegen sogar noch Sieben Berge dazwischen, vermutlich keine Exemplare mit Schatzhöhle, sondern besetzt von Antragsformularen und Vorgesetzten. Die Verlockungen des Konsums hinter den Fensterscheiben werden gebündelt am Bankschalter: hier ist das Geld, oder auch nicht. Vor dem Markt sind alle gleich, das ist die große Leistung der Marktgesellschaft. Vor dem Bankschalter hört die Demokratie aber naturgegeben auf. Siehe Moses.
Und noch eine andere Legende hört an diesem Schalter auf. Die Vielfalt des Konsumierbaren reduziert sich hier auf den berühmten binären Code: Bezahlen oder nicht bezahlen. Da hilft auch die ganze Rede von der Doppelrolle des Konsumenten als kultureller Entscheider nicht viel. Natürlich hat Konsum die unglaubliche kulturelle Vielfalt von 20000 Sorten Turnschuhen hervorgerufen. Natürlich werden ökonomische Prozesse weitgehend durch symbolische Prozesse und damit im weitesten Sinne durch Kultur beeinflusst. Aber am Schalter wird nun mal geschaltet: Alle heterogenen Objekte werden durch den Markt auf Quantität reduziert, und kulturelle Differenzierung wird nur dort vom Markt vorangetrieben, wo sie sich in Zahlungsversprechen umsetzen lässt.

Der Sesam-öffne-dich–code hat vier Ziffern in der Regel, und muss am Bankomaten eingegeben werden. Ali Baba war der erste Trickbetrüger, der Pin Codes ausgespäht hat. Warum haben die Räuber auch nicht leise gesprochen. Aber selbst die Kenntnis des Codes bürgt noch nicht für Erfolg. Erstens kann die Höhle leer sein. Oder, was in der Geschichte geschah: Man findet nie wieder heraus. Der Gang in die Schatzkammer ist wie ein Schuß Heroin. Über Drogen wird sich mit verantwortungsschwangerer Miene das Maul zerrissen, aber Werbeplakate für neue Autos sind 8 mal 10 Meter groß, und da stört kaum einen. Sicher ist Konsum die zentrale Waffe des Kapitalismus, und es bringt das Abendland an den Rand des Wahnsinns, dass sich Glauben nicht immer von selbst auflöst um an Konsumgüter zu kommen. Wenn sich die Krise so gut weiter entwickelt wie bisher, bald Marken auf Konsumgüter ausgeteilt werden und man wieder über anderes redet als über neue Autos, haben wir vielleicht auch eine Chance zu verstehen wie jemand tickt, dem Konsum nicht alles bedeutet, bei dem vielleicht eine Religion oder Überzeugung an erster Stelle stehen.

Aber irgendwie sieht es nicht nach Zeiten aus, in denen der Autokauf auf der Begehrlichkeitsagenda nach hinten rutscht. 2500 Euro erhält man, wenn man sich ein Neues kauft. Das dürfte als eine der absurdesten und wohl auch zynischsten Ideen in die Geschichte eingehen. Wenn wenigstens etwas sinnvolles mit dem Geld gefördert worden wäre. Aber Autos. Ich hab das als eine Art Krisenbegrüßungsgeld gesehen, so wie ich 100 Mark bekam, nachdem die Mauer fiel. Überhaupt der Osten. Das ist der Moment wo ich nicht anders kann, als mich nach einer speziellen Qualität der DDR zu sehnen. Geld spielte keine Rolle. Es hatte sowieso keiner welches, oder alle genauso viel, es war berühmterweise ziemlich egal, wer in der Kneipe zahlte. Ich rede nicht über die makroökonomische Unhaltbarkeit des Zustandes oder über Meinungsdiktatur und Terror. Es geht um das irre Gefühl, das Geld keine Rolle spielt. Nicht weil man genug oder zuviel hätte. Die Kategorie ist irrelevant. Das ist unnachahmlich und unglaublich, es ist ungeheuerlich. Das war gefährlich. Die meisten Werte, die in der aktuellen Krise in Frage stehen, waren in den Köpfen der meisten schlichtweg nicht existent.
Und die Existenz von Werten in Köpfen ist tatsächlich zentral. Zwischen Wahrnehmung und Wirklichkeit lauert der Schlund. Die CDS – Konstruktionen haben die Risiken in der Wahrnehmung verschwinden lassen. Wie Bodo Kirchoff anmerkte, ist die Umettikettierung von Krediten zu Wertpapieren eben nicht nur eine Neubenennung, sondern hat weitreichende Konsequenzen. Irgendwie erinnert das fatal an die Wertstofftonne.

Aber neben der Ethikdiskussion hat die Krise noch etwas Gutes. Sie ist nämlich Verschwendung. Es werden gigantische Summen vernichtet, die steckt sich ja keiner in die Tasche. Und das, ja das ist Kultur. Es ist eine gigantische Feier der eigenen Potenz, eine orgastische Verausgabung. Warum hören die Leute nicht endlich auf zu jammern, es ist erbärmlich. Der Globus zuckt. Ob das Abendland Viagra geschluckt hat und weiterhämmert, wird sich hinterher zeigen. Sonst folgt Schlaf, Trauer und Demut. Auch das ist wundervoll.
George Bataille wäre begeistert, und er ist sicher der Patron des Geschehens, dem ich die Ehre geben muss ihn ausführlich zu erwähnen. Er folgt in seiner Ökonomie der Verschwendung der Unterscheidung zwischen produktiven und unproduktiven Ausgaben.
Das Ideal der Nützlichkeit in unserer Gesellschaft besagt, dass Tätigkeit nur Wert hat, wenn sie „auf die grundlegenden Erfordernisse von Produktion und Erhaltung zurückführbar ist.“ Nützlich ist etwas daher nur, wenn es auch produktiv ist, und das betrifft auch die Ausgaben. Ausgaben werden in dem Kontext nur gemacht, wenn sie der Wiederbeschaffung von Ressourcen dienen.
Die unproduktiven Ausgaben hingegen - Luxus, Trauerzeremonien, Kriege, Kulte, Prachtbauten, Spiele, Künste – sie sind das, was den Menschen – ob schlecht oder gut - als kulturelles Wesen definieren. Das Problem, das Bataille sieht, ist das der Verbindung von überschüssiger Energie mit begrenztem Wachstum.
Etwas unorthodox könnte man anfügen, die Idee, dass Geld als Kredit das Licht der Welt erblickt, ist ökonomisches Fundament einerseits. Dass es damit aber potenziell endlos weiter verleihbar und so vermehrbar ist , hat etwas von unendlicher, überschüssiger Energie, Batailles verschwenderischer kosmischer Energie zu vergleichen.
Kredit als kosmische Kraft. Nicht schlecht. Beim nächsten mal also dran denken: Mit so was spielt man nicht!
Ralph und Stefan Heidenreich, die mit Mehr Geld das wohl bislang beste Buch zur Krise vorgelegt haben, bringen das Problem mit dem Geld auf den kategorischen Zählbefehl, der immer nach oben geht, und deshalb vermehrt. Eins, zwei, drei, vier ------ das schreit nach der fünf. Und weiter! Weiter!
Zurück zu Bataille. Sehen wir, was dann passiert: Das Gesetz, das Bataille aus der Verbindung von überschüssiger Energie (auch unbegrenzter Produktion) und begrenztem Wachstum ableitet. In jedem System kommt der Punkt, an dem die überschüssige Energie nicht mehr dem Wachstum zugeführt werden kann und entsprechend unproduktiv verwand, d.h. nutzlos vergeudet werden muß.
Wie man das macht, erleben wir gerade. Und an der Stelle kann und muss ich Blyth Masters mitteilen, dass sie mit dem CDS wohl ein performatives Kunstwerk ersten Ranges erfunden hat, nur dass es beim Erscheinen von Relational Aesthetics noch nicht bekannt genug war, sonst hätte Nicolas Bourriaud es sicher erwähnt .

Ein Bild habe ich mir für den Schluss aufgehoben. In dem Bild kommt ein Brauch vor. Er wird Eingeborenen auf den Inseln des Pazifischen Nordwestens von Amerkia zugeschrieben, bekannt gemacht hat ihn das Buch Die Gabe von Marcel Mauss.
Ich paraphrasiere:
Der Brauch besteht im symbolischen Austausch zwischen Stämmen. Ein Stamm arbeitet an einem Geschenk, ein Jahr lang, einem Geschenk für den Clan des Nachbardorfes. Ein fein ziseliertes, fragiles Gebilde entsteht in tausenden und abertausenden Arbeitsstunden. Am Tag der Feier begibt sich der Clan zum Nachbardorf, eine Prozession mit dem Häuptling an der Spitze, der das empfindliche und kostbare Geschenk selbst trägt. Im Nachbardorf wird man erwartet. Die Häuptlinge stehen sich gegenüber, mit vielen AAHHH! und OHHH! wird die Gabe von allen bestaunt. Dann schmettert der Häuptling es dem anderen vor die Füße.
Schmetter! Wie es bei Donald Duck, dem grossen Kapitalismuskritiker, wohl heissen würde.

Also: Grosser Gestus, diese Krise. Aber: Gibt es ein anderes Dorf überhaupt? Wem wird das hier zu Füssen geschmettert? Uns selbst schmettern wir das vor die Füße. Und das, ja dass ist wirkliche Größe. Schmetter!

Oder, um zu Ali Baba zurückzukehren: Wer ist wohl die Trauergemeinde, die zu Casims Beerdigung kommt?
Und vor allem: Wer ist der Schneider?