Warenströme und Zielgruppen
Henrik Schrats geschnittete Wegweiser im Dickicht der Ökonomie
Ludwig Seyfarth

10/2005

Wo Verhältnisse komplex werden, bedarf es der Kraft der Anschauung, um die Orientierung zu behalten. Dabei helfen von jeher Märchen, Fabeln oder Sagen, die gleichnisartig an überschaubaren Beispielen vorführen, was richtig oder falsch, gut oder böse ist und welchen Weg man am besten einschlagen sollte.
Den richtigen Weg zu finden, fällt schwer, wenn man den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr sieht, was eigentlich heißt, dass man vor lauter Bäumen diese selbst nicht mehr erkennt.
Zu viele Bäume waren beispielsweise die "übermäßig großen Informationsbestände", die Niklas Luhmann als das "eigentliche Problem der Aufklärung" benannt hat.
Die beginnenden Erfahrungschocs der Moderne, um mit Walter Benjamin zu sprechen, und die sich durch die Industrialisierung vollständig zu wandeln beginnende Welt überforderte die Wahrnehmungskapazitäten vieler Zeitgenossen, die das größte Massenereignis vor der französischen Revoluti
on, die ersten Ballonflüge, zu imaginären Hohenflügen hinrieß. Der Blick von oben, die Überschau, brachte nicht immer Klarheit in die Verhältnisse, sondern verursachte häufig einen Taumel der Sinne, wie ihn Jean Paul seinen Luftschiffer Gianozzo ausgiebig erleben läßt.
Der Versuch, die horizontale Sicht zu klären, besteht darin, viele Bäume zu fällen, damit Freiraum entsteht und die Konturen wieder sichtbar werden. Das war das Programm der klassizistischen Zeichnung und Grafik, welche die Welt - oder vielmehr ein an der Antike orientiertes Schönheitsideal - fast nur in reinen Lineaturen wiedergab. Auf der Ausdruckskraft der Linie beruht auch die Kunstform der Silhouette, des Schattenrisses, die in Henrik Schrats Kunst eine entscheidende Rolle spielt.
Nachdem die Tradition ostasiatischer Schattenspiele in Europa bekannt geworden war, begann man im 17. Jahrhundert, konturierte Schattenbilder aus schwarzem Papier zu schneiden und auf weißen Karton zu kleben. Auch das Zeichnen von Silhouetten mit Indiatusche auf Glas oder Elfenbein erfreute sich zunehmender Beliebtheit. Ihren Namen erhielt die Umrißkunst schließlich nach dem Finanzminister Ludwigs XV., Etienne de Silhouette. Unterschiedlich ist überliefert, wie Silhouette zu dieser Ehre kam: entweder durch ein Schattenbild, das die übermäßige Sparsamkeit des Ministers treffend karikatierte, oder wegen seiner Vorliebe für Silhouetten bei der Ausstattung seiner Wohnung. Auch das würde zur Knauserigkeit passen, denn Scherenschnitte waren weit preiswerter als kostbare Gemälde.
Die verbreitetste Form des Schattenrisses wurde die Porträtsilhouette, die das Profil konturiert hervortreten ließ. Aber auch Muster und Ornamente wurden mit der Schere ausgeschnitten. Die Kunst der Silhouetten, die den Dinge gleichsam in die Schatten ihrer selbst verwandelt, ist das anschauliche Äquivalent zu der oft geäußerten und von Marx theoretisch untermauerten Empfindung, dass die kapitalistische Verwandlung der Dinge in den Tauschwert der Ware ihnen einen schatten- und zeichenhaften Charakter verleiht.
Die Schriftstellern der Romantik, von Adalbert von Chamisso oder E. T. A. Hoffmann, haben dafür viele dichterische Metaphern gefunden und damit auch dem Schattenriß zu gleichnishaften literarischen Ehren verholfen.
Schon Mitte des 18. Jahrhunderts begann ein berühmter englischer Landschaftsgärtner damit, Silhouetten direkt in die Natur zu schneiden. Was wir heute als typisch englische Parklandschaft empfinden, geht auf die flächendeckende Tätigkeit Lancelot "Capability" Browns zurück. Er gestaltete umfangreiche Ländereien, indem er den vorhandenen optischen Eindruck gezielt ordnete und neu arrangierte. Dabei ging er stets von den vorhandenen Möglichkeiten aus, was ihm den Beinamen "Capability" einbrachte. Keine Ausschweifung, nichts Überflüssiges, nichts Kapriziöses: Browns Silhouettierung der Landschaft hat nichts mit dem geometrischen Zuschneiden von Hecken und Pflanzen im Barockgarten zu tun, das schon Alexander Pope als Zurechtstutzen von Höflingen verspottete. Seine Kunst besteht darin, scheinbar nur die Natur zu unterstreichen, ihr auf unaufdringliche Weise Kontur zu verleihen. Es ist überliefert, wie er seine geplanten Eingriffe, die er "improvements" nannte, als Satzzeichen anschaulich zu machen suchte: "Hier mache ich ein Komma, dort, wo ein entschiedener Akzent angemessen ist, mache ich einen Doppelpunkt, wo eine Unterbrechung für den Blick wünschenswert ist, eine Klammer, dann setzte ich einen Punkt, um ein neues Thema zu beginnen..." (4)
Capability Brown unterlegt der Natur so etwas wie eine sprachliche Syntax, und genau das verleiht ihr eine grafische Silhouette. Auch damit ist Brown "ökonomisch", denn die Verbindung von linearem Verlauf und gezielter Durchbrechung ist bis heute für die grafische Darstellung wirtschaftlicher Prozesse kennzeichnend. Es ist auch das Strukturprinzip der Skyline, als deren Erfinder Capability Brown vielleicht gelten kann. Die Stadtsilhouetten der wichtigsten Wirtschaftsmetropolen können als anschauliche Analogie zum grafischen Verlauf der Aktienkurse gesehen werden.
Aussagekraft besitzen grafische Darstellungen komplexer Vorgänge jedoch nur für Menschen, die mit der Materie, etwa dem Börsengeschehen, vertraut sind. Für alle anderen bleiben die Linien abstrakt und unanschauliches wie vieles, seitdem die Realität, wie Bertolt Brecht bemerkte, "in die Funktionale gerutscht ist". Ein Foto der Krupp-Werke sagt nichts darüber aus, was die Krupp-Werke wirklich sind. Was in ihnen passiert, und heute, im fortgeschrittenen elektronischen Zeitalter, erkennt man eine Produktionsstätte oft nicht einmal mehr von außen.
Die Herstellung materieller Güter wird immer stärker zum bloßen Anhängsel einer "Information", die transportiert wird, etwa einem spezifischen Lebensgefühl, für das die Ware nur noch ein "Zeichen" ist. Wenn "Zielgruppen" anvisiert werden, um die "Warenströme" zu dirigieren, arbeitet die Sprache der Ökonomen mit visuellen Metaphern, die aber nicht anschaulich werden.
In seinen Schattenrissen, die oft derartige wirtschaftliche Begriffe als Titel tragen, schneidet Henrik Schrat die verlorene Anschaulichkeit im direkten Wortsinn wieder zurecht.
Er konfrontiert die abstrakte Sprache der Ökonomie mit einer märchenhaften Erzähl- und Fabulierfreude und führt sie damit auf ihr wörtliches Verständnis zurück. Dieses Beharren auf die Kraft der Anschauung ist keineswegs naiv. Die von Schrat gewählten Anschauungsformen sind nämlich kaum in der Lage, in der heutigen Wirtschaftswelt eine gleichnishafte Orientierung zu schaffen. Wenn die Schattenrisse größere räumliche und auch Tiefendimensionen annehmen, zum Beispiel bei "Pumpstation und Sterntaler", das ein großes Schaufenster am Eingang des Gebäudes der KfW-Bankengruppe in Berlin füllt, geht die Überschaubarkeit in einem Labyrinth von Spiegelungen schnell verloren. Wenn Schrat uns über komplexe Vorgänge aufzuklären scheint und gleichzeitig völlig in die Irre führt, hält er der Erfahrungslosigkeit des ökonomischen Informationszeitalters einen satirischen Spiegel vor. Dieser erinnert uns ständig daran, dass wir uns die Begriffe, mit denen wir uns in der Welt bewegen, immer auch anschaulich vorstellen sollten. Alles erklären, was hinter ihnen steckt, kann ein Künstler wie Schrat natürlich auch nicht. Aber er führt präzise vor Augen, was es heute heißt, den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr zu sehen.