Es gibt nur einen Ali Baba, aber 40 Räuber, das hat mich immer erschreckt. 
  Aber so, wie das Märchen läuft, arbeiten ja 40 Räuber daran, 
  den Reichtum heranzuschaffen, der dann an Ali Baba übergeht. Nicht sofort, 
  versteht sich. Vorher gibt es die Geschichte mit Cassim, Alis reichem und gierigem 
  Bruder. 
  Um es gleich zu sagen: Die Vergleiche sind offen, aber alle scheinen irgendwie 
  Sinn zu machen. Ob die Banken die Räuber sind, oder der gierige Bruder, 
  oder ob aber der Staat auftaucht oder der persönliche Egoismus, der nach 
  Adam Smith ja die Triebkraft des Gemeinwesens ist: Wir können diese Vergleiche 
  ansetzen, und dies ist die Stammtischrede dazu: ungerecht, arrogant und mit 
  viel Vergnügen. 
Im Märchen gibt es zumindest einen sympathischen Gerechten, mit dem wir 
  uns schön identifizieren können: Ali. 
  Er hört die Räuber kommen, flüchtet sich auf einen Baum, und 
  wird Zeuge, wie mit dem Spruch „Sesam öffne dich“ der Berg 
  zauberisch geöffnet wird, in dem die Räuber ihre Schätze lagern. 
  Später geht Ali selbst hinein und bedient sich. Sein Bruder Cassim, reich 
  und gierig, erfährt davon, und geht, um auch sich gestohlene Schätze 
  zu stehlen. Soweit schon eine Menge Parallelen zur Realität, einer macht 
  es vor, ein weiterer, möglicherweise etwas dümmer, macht es - im grossen 
  Stil - nach. Cassim gelangt mit dem Zauberspruch in den Berg, aber vergisst 
  den Spruch vor Aufregung und Gier, und bleibt bei all den Schätzen im Berg 
  gefangen. Die zurückkehrenden Räuber töten ihn, schneiden ihn 
  in Stücke, und stellen ihn aus, zur Abschreckung. Sein Bruder Ali jedoch 
  bringt die Stücke seines Bruders heim, verbindet einem Schneider die Augen, 
  und lässt ihn wieder zusammennähen, um ein Begräbnis zu veranstalten, 
  wie es sich in der Gesellschaft gehört. 
Ob man die Damen und Herren, welche die aktuelle Krise mit verschuldet haben, 
  wieder zusammengeflickt und ihnen ein Begräbnis ehrenhalber gegeben wird, 
  ist noch offen. Es ist auch keinesfalls ausgemacht, dass sie in Stücke 
  geschnitten werden. 
  Wenn’s schief geht, ist es das System gewesen, Beamtenhierarchien oder 
  Unternehmensabteilungen, am besten noch in Aktionärsbesitz, delegieren 
  Verantwortung, bis sie nirgends mehr zu finden ist. Der Kleinaktionär will 
  ja nur seine Rente sichern, dass hat ihm der Staat ja so beigebracht. So mag 
  es unfair sein, Blythe Masters zu zitieren, und sie zu einem Gesicht der Krise 
  zu machen. Die Frau, und endlich mal eine Frau, welche die Credit Default Swaps 
  (CDS) als Mitarbeiterin von Goldman Sachs populär gemacht und aggressiv 
  vermarktet hat, sagte am 28.10.2008, also nach dem ersten grossen Rutsch - auf 
  dem SIFMA meeting : ‚Its probably save to say, that the image of our industry 
  is at an all time low (...) Last time we where dancing to Hootie & the Blowfish 
  but this time we will listen to the Harlem Voice Quire.’ Dass das Image 
  der Banking-Industrie auf einem Allzeittief ist, war unschwer auszumachen, aber 
  es macht natürlich Vergnügen, die verschiedenen kulturellen Zuordnungen 
  zu sehen. Beim letzten Treffen wurde zu Hootie & the Blowfish getanzt, jetzt 
  ist die Zeit eines Gospelchores aus Harlem gekommen. Zeit sich an die Brust 
  zu schlagen, wie schlecht die Welt ist. Es ist wieder Sylvester, und man denkt 
  über das vergangene Jahr nach. 
Es konnte uns nichts besseres als die Krise passieren, soviel steht fest. Der 
  Kapitalismus wird deswegen nicht verschwinden, aber wir haben eine Ethikdiskussion 
  bekommen, die weit über die funktionalisierte Unternehmensethik hinausgeht. 
  Die alte Wippe zwischen Milton Friedmans „Der Markt ist das beste Sozialprogamm, 
  langfristig gleicht er alles aus“ und John Meynard Keynes Anwort „Langfristig 
  – sind wir alle tot“ (d.h. der Staat muss intervenieren) dreht sich 
  wiedereinmal in Richtung staatlichem Eingriff, und verfrachtet ökonomische 
  Sachverhalte auf die politische und öffentliche Bühne. Vielleicht 
  findet damit auch die Politik aus ihrer geräuschlosen Verwaltungsrolle 
  heraus und Persönlichkeiten mit Überzeugungen und nicht Karrierebürokraten 
  mit Effizienzdenken werden wieder sichtbar. 
  Aber weiter im Krisen-suhlen. Der Schritt vom Banker-buhen zur Gier an sich 
  ist noch zu machen, und von dort weiter zur Universalherrschaft des Konsums 
  und – des Zahlbefehls. Wenn sämtliche gesellschaftlich relevanten 
  Werte auf Zahlungsversprechen zurückzuführen sind, braucht sich keiner 
  wundern, wenn jeder mehr will. 
  Das gelobte Land wurde hinter Schaufensterscheiben verlegt. Ab und zu kommt 
  ein Fensterputzer und wischt die Fettnasen von der Scheibe ab. Moses durfte 
  auch nur vom Berg Nebo ins Gelobte Land sehen, es aber nie betreten. Im Zweifelsfall 
  liegen sogar noch Sieben Berge dazwischen, vermutlich keine Exemplare mit Schatzhöhle, 
  sondern besetzt von Antragsformularen und Vorgesetzten. Die Verlockungen des 
  Konsums hinter den Fensterscheiben werden gebündelt am Bankschalter: hier 
  ist das Geld, oder auch nicht. Vor dem Markt sind alle gleich, das ist die große 
  Leistung der Marktgesellschaft. Vor dem Bankschalter hört die Demokratie 
  aber naturgegeben auf. Siehe Moses. 
  Und noch eine andere Legende hört an diesem Schalter auf. Die Vielfalt 
  des Konsumierbaren reduziert sich hier auf den berühmten binären Code: 
  Bezahlen oder nicht bezahlen. Da hilft auch die ganze Rede von der Doppelrolle 
  des Konsumenten als kultureller Entscheider nicht viel. Natürlich hat Konsum 
  die unglaubliche kulturelle Vielfalt von 20000 Sorten Turnschuhen hervorgerufen. 
  Natürlich werden ökonomische Prozesse weitgehend durch symbolische 
  Prozesse und damit im weitesten Sinne durch Kultur beeinflusst. Aber am Schalter 
  wird nun mal geschaltet: Alle heterogenen Objekte werden durch den Markt auf 
  Quantität reduziert, und kulturelle Differenzierung wird nur dort vom Markt 
  vorangetrieben, wo sie sich in Zahlungsversprechen umsetzen lässt. 
Der Sesam-öffne-dich–code hat vier Ziffern in der Regel, und muss am Bankomaten eingegeben werden. Ali Baba war der erste Trickbetrüger, der Pin Codes ausgespäht hat. Warum haben die Räuber auch nicht leise gesprochen. Aber selbst die Kenntnis des Codes bürgt noch nicht für Erfolg. Erstens kann die Höhle leer sein. Oder, was in der Geschichte geschah: Man findet nie wieder heraus. Der Gang in die Schatzkammer ist wie ein Schuß Heroin. Über Drogen wird sich mit verantwortungsschwangerer Miene das Maul zerrissen, aber Werbeplakate für neue Autos sind 8 mal 10 Meter groß, und da stört kaum einen. Sicher ist Konsum die zentrale Waffe des Kapitalismus, und es bringt das Abendland an den Rand des Wahnsinns, dass sich Glauben nicht immer von selbst auflöst um an Konsumgüter zu kommen. Wenn sich die Krise so gut weiter entwickelt wie bisher, bald Marken auf Konsumgüter ausgeteilt werden und man wieder über anderes redet als über neue Autos, haben wir vielleicht auch eine Chance zu verstehen wie jemand tickt, dem Konsum nicht alles bedeutet, bei dem vielleicht eine Religion oder Überzeugung an erster Stelle stehen.
Aber irgendwie sieht es nicht nach Zeiten aus, in denen der Autokauf auf der 
  Begehrlichkeitsagenda nach hinten rutscht. 2500 Euro erhält man, wenn man 
  sich ein Neues kauft. Das dürfte als eine der absurdesten und wohl auch 
  zynischsten Ideen in die Geschichte eingehen. Wenn wenigstens etwas sinnvolles 
  mit dem Geld gefördert worden wäre. Aber Autos. Ich hab das als eine 
  Art Krisenbegrüßungsgeld gesehen, so wie ich 100 Mark bekam, nachdem 
  die Mauer fiel. Überhaupt der Osten. Das ist der Moment wo ich nicht anders 
  kann, als mich nach einer speziellen Qualität der DDR zu sehnen. Geld spielte 
  keine Rolle. Es hatte sowieso keiner welches, oder alle genauso viel, es war 
  berühmterweise ziemlich egal, wer in der Kneipe zahlte. Ich rede nicht 
  über die makroökonomische Unhaltbarkeit des Zustandes oder über 
  Meinungsdiktatur und Terror. Es geht um das irre Gefühl, das Geld keine 
  Rolle spielt. Nicht weil man genug oder zuviel hätte. Die Kategorie ist 
  irrelevant. Das ist unnachahmlich und unglaublich, es ist ungeheuerlich. Das 
  war gefährlich. Die meisten Werte, die in der aktuellen Krise in Frage 
  stehen, waren in den Köpfen der meisten schlichtweg nicht existent. 
  Und die Existenz von Werten in Köpfen ist tatsächlich zentral. Zwischen 
  Wahrnehmung und Wirklichkeit lauert der Schlund. Die CDS – Konstruktionen 
  haben die Risiken in der Wahrnehmung verschwinden lassen. Wie Bodo Kirchoff 
  anmerkte, ist die Umettikettierung von Krediten zu Wertpapieren eben nicht nur 
  eine Neubenennung, sondern hat weitreichende Konsequenzen. Irgendwie erinnert 
  das fatal an die Wertstofftonne. 
Aber neben der Ethikdiskussion hat die Krise noch etwas Gutes. Sie ist nämlich 
  Verschwendung. Es werden gigantische Summen vernichtet, die steckt sich ja keiner 
  in die Tasche. Und das, ja das ist Kultur. Es ist eine gigantische Feier der 
  eigenen Potenz, eine orgastische Verausgabung. Warum hören die Leute nicht 
  endlich auf zu jammern, es ist erbärmlich. Der Globus zuckt. Ob das Abendland 
  Viagra geschluckt hat und weiterhämmert, wird sich hinterher zeigen. Sonst 
  folgt Schlaf, Trauer und Demut. Auch das ist wundervoll. 
  George Bataille wäre begeistert, und er ist sicher der Patron des Geschehens, 
  dem ich die Ehre geben muss ihn ausführlich zu erwähnen. Er folgt 
  in seiner Ökonomie der Verschwendung der Unterscheidung zwischen produktiven 
  und unproduktiven Ausgaben. 
  Das Ideal der Nützlichkeit in unserer Gesellschaft besagt, dass Tätigkeit 
  nur Wert hat, wenn sie „auf die grundlegenden Erfordernisse von Produktion 
  und Erhaltung zurückführbar ist.“ Nützlich ist etwas daher 
  nur, wenn es auch produktiv ist, und das betrifft auch die Ausgaben. Ausgaben 
  werden in dem Kontext nur gemacht, wenn sie der Wiederbeschaffung von Ressourcen 
  dienen. 
  Die unproduktiven Ausgaben hingegen - Luxus, Trauerzeremonien, Kriege, Kulte, 
  Prachtbauten, Spiele, Künste – sie sind das, was den Menschen – 
  ob schlecht oder gut - als kulturelles Wesen definieren. Das Problem, das Bataille 
  sieht, ist das der Verbindung von überschüssiger Energie mit begrenztem 
  Wachstum. 
  Etwas unorthodox könnte man anfügen, die Idee, dass Geld als Kredit 
  das Licht der Welt erblickt, ist ökonomisches Fundament einerseits. Dass 
  es damit aber potenziell endlos weiter verleihbar und so vermehrbar ist , hat 
  etwas von unendlicher, überschüssiger Energie, Batailles verschwenderischer 
  kosmischer Energie zu vergleichen. 
  Kredit als kosmische Kraft. Nicht schlecht. Beim nächsten mal also dran 
  denken: Mit so was spielt man nicht! 
  Ralph und Stefan Heidenreich, die mit Mehr Geld das wohl bislang beste Buch 
  zur Krise vorgelegt haben, bringen das Problem mit dem Geld auf den kategorischen 
  Zählbefehl, der immer nach oben geht, und deshalb vermehrt. Eins, zwei, 
  drei, vier ------ das schreit nach der fünf. Und weiter! Weiter! 
  Zurück zu Bataille. Sehen wir, was dann passiert: Das Gesetz, das Bataille 
  aus der Verbindung von überschüssiger Energie (auch unbegrenzter Produktion) 
  und begrenztem Wachstum ableitet. In jedem System kommt der Punkt, an dem die 
  überschüssige Energie nicht mehr dem Wachstum zugeführt werden 
  kann und entsprechend unproduktiv verwand, d.h. nutzlos vergeudet werden muß. 
  
  Wie man das macht, erleben wir gerade. Und an der Stelle kann und muss ich Blyth 
  Masters mitteilen, dass sie mit dem CDS wohl ein performatives Kunstwerk ersten 
  Ranges erfunden hat, nur dass es beim Erscheinen von Relational Aesthetics noch 
  nicht bekannt genug war, sonst hätte Nicolas Bourriaud es sicher erwähnt 
  . 
Ein Bild habe ich mir für den Schluss aufgehoben. In dem Bild kommt ein 
  Brauch vor. Er wird Eingeborenen auf den Inseln des Pazifischen Nordwestens 
  von Amerkia zugeschrieben, bekannt gemacht hat ihn das Buch Die Gabe von Marcel 
  Mauss. 
  Ich paraphrasiere: 
  Der Brauch besteht im symbolischen Austausch zwischen Stämmen. Ein Stamm 
  arbeitet an einem Geschenk, ein Jahr lang, einem Geschenk für den Clan 
  des Nachbardorfes. Ein fein ziseliertes, fragiles Gebilde entsteht in tausenden 
  und abertausenden Arbeitsstunden. Am Tag der Feier begibt sich der Clan zum 
  Nachbardorf, eine Prozession mit dem Häuptling an der Spitze, der das empfindliche 
  und kostbare Geschenk selbst trägt. Im Nachbardorf wird man erwartet. Die 
  Häuptlinge stehen sich gegenüber, mit vielen AAHHH! und OHHH! wird 
  die Gabe von allen bestaunt. Dann schmettert der Häuptling es dem anderen 
  vor die Füße. 
  Schmetter! Wie es bei Donald Duck, dem grossen Kapitalismuskritiker, wohl heissen 
  würde. 
Also: Grosser Gestus, diese Krise. Aber: Gibt es ein anderes Dorf überhaupt? Wem wird das hier zu Füssen geschmettert? Uns selbst schmettern wir das vor die Füße. Und das, ja dass ist wirkliche Größe. Schmetter!
Oder, um zu Ali Baba zurückzukehren: Wer ist wohl die Trauergemeinde, 
  die zu Casims Beerdigung kommt? 
  Und vor allem: Wer ist der Schneider?