"Die Erscheinung des Chipmasters"
"Appearance of the Chipmaster"


Innerhalb des Projektes "City - Index" Juli-August 2000, Dresden

Henrik Schrat widmet sich in dieser Arbeit der technologischen Entwicklung und dem Glauben an „Aufschwung“. Konkreter Anlass ist die neue Ansiedelung von Chip- und Computerunternehmen nach 1990 am traditionellen Mikroelektronikstandort  Dresden. Dies wird in Verbindung gesetzt zur „Gläsernen Frau“, erdacht und ausgestellt im Deutschen Hygienemuseum, eine Ikone des lokalen Selbstverständnisses. Der Künstler entwickelte eine neue Außenhaut für die „Gläserne Frau“, die in klassischer Denkmaltradition auf voluminösem Sandsteinsockel als „temporäres Denkmal“ aufgestellt wurde. Ein „Chipmaster“ wurde auf der Prager Straße, dem modernen Geschäftszentrum, und ein zweiter im Galeriekontext vor dem Festspielhaus Hellerau installiert. Ein Fragebogen beeinflusste die Form der Figur. Schrat fragte nach dem Geschlecht und nach verschiedenen Abstaktionsrichtungen, die einer solchen symbolischen Figur entsprechen würden.
 

Die Auswertung 64 Fragebögen mit einem Punktesystem ergab: Geschlechtslos: 22, Androgyn: 10, Weiblich: 14, Männlich: 18; Bei den Abstraktionsrichungen: Schönheit:14 Punkte; geometrische Grundformen: 27 Punkte; Soft: 24 Punkte; Muskelmensch: 25 Punkte; Comic: 30 Punkte; Cyberspace: 98 Punkte; Standartkörper:12 Punkte und Roboterformen: 41 Punkte.

Die "Gläserne Frau" von 1931 des Hygienemuseums in Dresden

      Chipmaster auf der Prager Straße
Chipmaster vor dem Festspielhaus Hellerau
 

Der Chipmaster - eine bildhauerische Frage

Brian Holmes

Was macht die Gläserne Frau so faszinierend? Sie ist keine Fantasiegestalt, kein Traumgebilde; aber sie ist auch nicht nur eine hochentwickelte Maschine. Transparent, zeigt sie ein Skelett von Knochen, ein feines Netz von Nerven und Venen, all die mysteriösen Organe, die unter unserer Haut pochen. In der westlichen Zivilisation wird das Fleischliche schon lange als weiblich angesehen. Aber diese Frau ist emotionslos, ohne einen Blick: Sie repräsentiert perfektes handwerkliches Können, eine Huldigung der Industrie an die wissenschaftliche Disziplin. Für Generationen stand sie zwischen den intimen femininen Erfahrungen des Körpers und den gesellschaftlichen maskulinen Welten des Lernens und der Arbeit. Sie war Dresdens einzigartiger Beitrag zu einer unvollendeten Serie von imaginären Figuren, durch die Männer und Frauen seit der Aufklärung versuchen, die körperliche Identität zu beherrschen und sie fest im Realen zu situieren.
Man könnte ihre bildhauerischen Ahnen unter den barocken Automaten suchen, den unheimlichen Puppen der Salons des siebzehnten Jahrhunderts. Aber diese spiegelten die aristokratischen Spekulationen freidenkender Libertins wider, die die göttliche Schöpfung herausforderten, indem sie ihr den Handschuh der menschlichen Vernunft hinwarfen. Ich denke, wir werden der Bedeutung und den Ambiguitäten der Gläsernen Frau näher kommen, wenn wir außerhalb der Gattung Bildhauerei suchen und uns den illustrierten Anatomiebüchern zuwenden, die ab dem achtzehnten Jahrhundert in großer Zahl in Europa erschienen. Der Markt für diese teuren Bücher mit ihren kostbaren illustrativen Stichen ging deutlich über den spezialisierten medizinisch gebildeten Käuferkreis hinaus, dem sie professionell nützlich war. Wenn die encyclopedia anatomica ein fast notwendiger fester Bestandteil der bürgerlichen Bibliothek war, dann deshalb, weil sie die Möglichkeit einer vollkommen sekulären Aneignung der materiellen Welt versprach, die mit dem eigen Körper begann. Eine empirische Beschreibung und detaillierte visuelle Darstellung des menschlichen Körpers zu besitzen, war ein erster Schritt des bürgerlichen Projekts, einen Stand in dieser Welt aufzubauen, zu besitzen und zu verwalten, der keiner Macht verpflichtet ist außer der, die dem Menschen natürlich eigen ist. Die Schaffung eines Besitzrechts auf der Welt begann mit dem Interesse für den gelebten Körper, eine intime souci de soi oder “Sorge um sich”, die, wie Michel Foucault gezeigt hat, untrennbar mit den Diskursen und Disziplinen des Wissens verbunden ist.

Die Gläserne Frau im zwanzigsten Jahrhundert ist Teil einer weit größeren Hygienebewegung, die die bürgerlich-liberale Version der Sorge um sich als soziale Didaktik für die Massengesellschaft umformuliert. Das Deutsche Hygienemuseum war inspiriert von dem pädagogischen Idealismus des Industriellen und Philanthropen Karl August Lingner (1861-1916), der die erste Internationale Hygieneausstellung 1911 in Dresden organisierte, die über fünf Millionen Besucher hatte. Die Aneignung eines sekularisierten Körpers - eines Körpers der wissenschaftlichen Erkenntnis - sollte nun stattfinden; nicht in der kontemplativen Atmosphäre einer privaten Familienbibliothek, sondern vielmehr in der öffentlichen Beziehung zwischen einer Bildungsinstitution und den Disziplinen des modernen industriellen Labors. Die Gläserne Frau, 1930 im Hygienemuseum hergestellt, ist beispielhaft für diese neue soziale Beziehung: In einer konzentrierten, spektakulären Form präsentiert sie die Ergebnisse tausender Stunden koordinierter intellektueller und industrieller Arbeit, “transparent” und dem öffentlichen Auge (aber nicht der Hand) zugänglich gemacht durch das moderne Material schlechthin: Glas.

Aus gehöriger Distanz diesen vollkommen sauberen und perfekt funktionierenden Körper der kollektiven Arbeit zu betrachten hatte eine Bedeutung: Man begann, den angemessenen und gesunden Platz für den eigenen undurchsichtigen Körper innerhalb der Disziplinen und Produktionsregime der massenindustriellen Gesellschaft zu finden. Die Arme in den Himmel gestreckt, wurde die Gläserne Frau ein Zeichen für die mehr oder weniger bewußt entwickelten Techniken der Gesellschaft zur kollektiven Erziehung des zerbrechlichen Fleisches des Einzelnen. Daher ihre Faszination, und daher die Frage, die sie uns heute stellt: Was werden die postindustriellen Zeichen sein, die zeitgenössischen pädagogischen Rituale für die Aneignung des intimen und des technischen Körpers? Mit dem Chipmaster stellt Henrik Schrat die Frage in Form eines “temporären Denkmals”, auf ein klassisches Steinpodest gestellt, das auf eine noch virtuelle Zukunft hinweist.
Die Stadt Dresden setzt heute, zweifellos zurecht, ökonomisch auf den Silikonchip und auf die neue Form von Transparenz und Liberalismus, die der Personalcomputer heute verspricht. Diese Wette ist nicht nur wirtschaftlich. Wir wissen, daß die perfekte industrielle Gesellschaft, die die DDR verkörpern wollte, einen PC nicht massenweise produzieren konnte. Der PC als ein Gerät, welches das enorme Panorama bürokratischen und technowissenschaftlichen Wissens, das vom zwanzigsten Jahrhundert produziert wurde, verkleinert und es dem Individuum in die Hände gibt. Diesen Wissenskörper zu “beherrschen”, oder zumindest die Möglichkeit, sich hindurchzunavigieren, ist der einzige Weg für den Menschen aus Fleisch und Blut, den jungen Mann und die junge Frau von heute, einen Platz in der “globalisierten” Gesellschaft zu finden, die das feste Skelett der industriellen Disziplinen hinter sich gelassen hat. Aber die neue Welt kann nicht durch eine Anordnung oder Zauberei entstehen, einfach nur durch das Entstehen von Fabriken und die Verteilung von Maschinen. Neue Figuren für die Beziehung von Selbst und Gesellschaft müssen geschaffen werden, neue Orte für die Rituale der Inbesitznahme des Körpers.
Die Frage, die Henrik Schrat stellt - mit einem Denkmal, dessen letzte Form bedeutenderweise durch die Antworten auf einen Fragebogen determiniert wurde - geht um die kollektiven und intimen Formen der Selbsterziehung, des souci de soi. Aber Schrats Statue ist aus dem unendlich formbaren und ausgesprochen postmodernen Material Plastik gemacht, und ihre Transparenz zeigt nichts: Es ist eine reine Oberfläche, totale Entblößung. Wir haben nämlich noch keine Idee einer wünschenswerten “Hygiene” für den interaktiven, grundsätzlich gesellschaftlichen “Datenkörper” in seiner Beziehung zum zerbrechlichen Fleisch. Das Individuum, hochgehalten und sogar monumentalisiert als der höchste Wert überhaupt, ist gleichzeitig jedem Blick durchsichtig: Neue Wege zwischen den privaten und kollektiven Sphären haben sich noch nicht gebildet. Die Fragen des Genusses in Zeiten von Cybersex, vom Kinderkriegen in Zeiten der genetischen Manipulation, von hierarchische Beziehungen in der Zeit der Netzwerke, und von regionalen Ausdrucksweisen und Regierungsabläufen in Zeiten transnationalen Austausches sind alle offen, unbeantwortet. Der Chipmaster verkörpert diese Formen, die Konturen, die Netzstruktur dieses Rätsels; aber seine Undurchsichtigkeiten, die die Gläserne Frau als Nerven, Organe und Skelett darstellte - oder, weiter gefaßt, als die Beziehung zwischen organischer Arbeitskraft und dem wissenschaftlichen Fortschritt der Industrie - müssen für das einundzwanzigste Jahrhundert noch eine Form gegeben werden.
 

Übersetzung: Wilhelm Werthern