Henrik Schrat widmet sich in dieser
Arbeit der technologischen Entwicklung und dem Glauben an „Aufschwung“. Konkreter
Anlass ist die neue Ansiedelung von Chip- und Computerunternehmen nach 1990
am traditionellen Mikroelektronikstandort Dresden. Dies wird in Verbindung
gesetzt zur „Gläsernen Frau“, erdacht und ausgestellt im Deutschen Hygienemuseum,
eine Ikone des lokalen Selbstverständnisses. Der Künstler entwickelte
eine neue Außenhaut für die „Gläserne Frau“, die in klassischer
Denkmaltradition auf voluminösem Sandsteinsockel als „temporäres Denkmal“
aufgestellt wurde. Ein „Chipmaster“ wurde auf der Prager Straße, dem modernen
Geschäftszentrum, und ein zweiter im Galeriekontext vor dem Festspielhaus
Hellerau installiert. Ein Fragebogen beeinflusste die Form der Figur. Schrat
fragte nach dem Geschlecht und nach verschiedenen Abstaktionsrichtungen, die
einer solchen symbolischen Figur entsprechen würden.
Die Auswertung 64 Fragebögen mit einem Punktesystem ergab: Geschlechtslos: 22, Androgyn: 10, Weiblich: 14, Männlich: 18; Bei den Abstraktionsrichungen: Schönheit:14 Punkte; geometrische Grundformen: 27 Punkte; Soft: 24 Punkte; Muskelmensch: 25 Punkte; Comic: 30 Punkte; Cyberspace: 98 Punkte; Standartkörper:12 Punkte und Roboterformen: 41 Punkte.
Die
"Gläserne Frau" von 1931 des Hygienemuseums in Dresden
Chipmaster auf der Prager Straße
Chipmaster vor dem Festspielhaus Hellerau
Der Chipmaster - eine bildhauerische Frage
Brian Holmes
Was macht die Gläserne Frau so
faszinierend? Sie ist keine Fantasiegestalt, kein Traumgebilde; aber sie ist
auch nicht nur eine hochentwickelte Maschine. Transparent, zeigt sie ein Skelett
von Knochen, ein feines Netz von Nerven und Venen, all die mysteriösen
Organe, die unter unserer Haut pochen. In der westlichen Zivilisation wird das
Fleischliche schon lange als weiblich angesehen. Aber diese Frau ist emotionslos,
ohne einen Blick: Sie repräsentiert perfektes handwerkliches Können,
eine Huldigung der Industrie an die wissenschaftliche Disziplin. Für Generationen
stand sie zwischen den intimen femininen Erfahrungen des Körpers und den
gesellschaftlichen maskulinen Welten des Lernens und der Arbeit. Sie war Dresdens
einzigartiger Beitrag zu einer unvollendeten Serie von imaginären Figuren,
durch die Männer und Frauen seit der Aufklärung versuchen, die körperliche
Identität zu beherrschen und sie fest im Realen zu situieren.
Man könnte ihre bildhauerischen Ahnen unter den barocken Automaten suchen,
den unheimlichen Puppen der Salons des siebzehnten Jahrhunderts. Aber diese
spiegelten die aristokratischen Spekulationen freidenkender Libertins wider,
die die göttliche Schöpfung herausforderten, indem sie ihr den Handschuh
der menschlichen Vernunft hinwarfen. Ich denke, wir werden der Bedeutung und
den Ambiguitäten der Gläsernen Frau näher kommen, wenn wir außerhalb
der Gattung Bildhauerei suchen und uns den illustrierten Anatomiebüchern
zuwenden, die ab dem achtzehnten Jahrhundert in großer Zahl in Europa
erschienen. Der Markt für diese teuren Bücher mit ihren kostbaren
illustrativen Stichen ging deutlich über den spezialisierten medizinisch
gebildeten Käuferkreis hinaus, dem sie professionell nützlich war.
Wenn die encyclopedia anatomica ein fast notwendiger fester Bestandteil der
bürgerlichen Bibliothek war, dann deshalb, weil sie die Möglichkeit
einer vollkommen sekulären Aneignung der materiellen Welt versprach, die
mit dem eigen Körper begann. Eine empirische Beschreibung und detaillierte
visuelle Darstellung des menschlichen Körpers zu besitzen, war ein erster
Schritt des bürgerlichen Projekts, einen Stand in dieser Welt aufzubauen,
zu besitzen und zu verwalten, der keiner Macht verpflichtet ist außer
der, die dem Menschen natürlich eigen ist. Die Schaffung eines Besitzrechts
auf der Welt begann mit dem Interesse für den gelebten Körper, eine
intime souci de soi oder “Sorge um sich”, die, wie Michel Foucault gezeigt hat,
untrennbar mit den Diskursen und Disziplinen des Wissens verbunden ist.
Die Gläserne Frau im zwanzigsten Jahrhundert ist Teil einer weit größeren
Hygienebewegung, die die bürgerlich-liberale Version der Sorge um sich
als soziale Didaktik für die Massengesellschaft umformuliert. Das Deutsche
Hygienemuseum war inspiriert von dem pädagogischen Idealismus des Industriellen
und Philanthropen Karl August Lingner (1861-1916), der die erste Internationale
Hygieneausstellung 1911 in Dresden organisierte, die über fünf Millionen
Besucher hatte. Die Aneignung eines sekularisierten Körpers - eines Körpers
der wissenschaftlichen Erkenntnis - sollte nun stattfinden; nicht in der kontemplativen
Atmosphäre einer privaten Familienbibliothek, sondern vielmehr in der öffentlichen
Beziehung zwischen einer Bildungsinstitution und den Disziplinen des modernen
industriellen Labors. Die Gläserne Frau, 1930 im Hygienemuseum hergestellt,
ist beispielhaft für diese neue soziale Beziehung: In einer konzentrierten,
spektakulären Form präsentiert sie die Ergebnisse tausender Stunden
koordinierter intellektueller und industrieller Arbeit, “transparent” und dem
öffentlichen Auge (aber nicht der Hand) zugänglich gemacht durch das
moderne Material schlechthin: Glas.
Aus gehöriger Distanz diesen vollkommen
sauberen und perfekt funktionierenden Körper der kollektiven Arbeit zu
betrachten hatte eine Bedeutung: Man begann, den angemessenen und gesunden Platz
für den eigenen undurchsichtigen Körper innerhalb der Disziplinen
und Produktionsregime der massenindustriellen Gesellschaft zu finden. Die Arme
in den Himmel gestreckt, wurde die Gläserne Frau ein Zeichen für die
mehr oder weniger bewußt entwickelten Techniken der Gesellschaft zur kollektiven
Erziehung des zerbrechlichen Fleisches des Einzelnen. Daher ihre Faszination,
und daher die Frage, die sie uns heute stellt: Was werden die postindustriellen
Zeichen sein, die zeitgenössischen pädagogischen Rituale für
die Aneignung des intimen und des technischen Körpers? Mit dem Chipmaster
stellt Henrik Schrat die Frage in Form eines “temporären Denkmals”, auf
ein klassisches Steinpodest gestellt, das auf eine noch virtuelle Zukunft hinweist.
Die Stadt Dresden setzt heute, zweifellos zurecht, ökonomisch auf den Silikonchip
und auf die neue Form von Transparenz und Liberalismus, die der Personalcomputer
heute verspricht. Diese Wette ist nicht nur wirtschaftlich. Wir wissen, daß
die perfekte industrielle Gesellschaft, die die DDR verkörpern wollte,
einen PC nicht massenweise produzieren konnte. Der PC als ein Gerät, welches
das enorme Panorama bürokratischen und technowissenschaftlichen Wissens,
das vom zwanzigsten Jahrhundert produziert wurde, verkleinert und es dem Individuum
in die Hände gibt. Diesen Wissenskörper zu “beherrschen”, oder zumindest
die Möglichkeit, sich hindurchzunavigieren, ist der einzige Weg für
den Menschen aus Fleisch und Blut, den jungen Mann und die junge Frau von heute,
einen Platz in der “globalisierten” Gesellschaft zu finden, die das feste Skelett
der industriellen Disziplinen hinter sich gelassen hat. Aber die neue Welt kann
nicht durch eine Anordnung oder Zauberei entstehen, einfach nur durch das Entstehen
von Fabriken und die Verteilung von Maschinen. Neue Figuren für die Beziehung
von Selbst und Gesellschaft müssen geschaffen werden, neue Orte für
die Rituale der Inbesitznahme des Körpers.
Die Frage, die Henrik Schrat stellt - mit einem Denkmal, dessen letzte Form
bedeutenderweise durch die Antworten auf einen Fragebogen determiniert wurde
- geht um die kollektiven und intimen Formen der Selbsterziehung, des souci
de soi. Aber Schrats Statue ist aus dem unendlich formbaren und ausgesprochen
postmodernen Material Plastik gemacht, und ihre Transparenz zeigt nichts: Es
ist eine reine Oberfläche, totale Entblößung. Wir haben nämlich
noch keine Idee einer wünschenswerten “Hygiene” für den interaktiven,
grundsätzlich gesellschaftlichen “Datenkörper” in seiner Beziehung
zum zerbrechlichen Fleisch. Das Individuum, hochgehalten und sogar monumentalisiert
als der höchste Wert überhaupt, ist gleichzeitig jedem Blick durchsichtig:
Neue Wege zwischen den privaten und kollektiven Sphären haben sich noch
nicht gebildet. Die Fragen des Genusses in Zeiten von Cybersex, vom Kinderkriegen
in Zeiten der genetischen Manipulation, von hierarchische Beziehungen in der
Zeit der Netzwerke, und von regionalen Ausdrucksweisen und Regierungsabläufen
in Zeiten transnationalen Austausches sind alle offen, unbeantwortet. Der Chipmaster
verkörpert diese Formen, die Konturen, die Netzstruktur dieses Rätsels;
aber seine Undurchsichtigkeiten, die die Gläserne Frau als Nerven, Organe
und Skelett darstellte - oder, weiter gefaßt, als die Beziehung zwischen
organischer Arbeitskraft und dem wissenschaftlichen Fortschritt der Industrie
- müssen für das einundzwanzigste Jahrhundert noch eine Form gegeben
werden.
Übersetzung: Wilhelm Werthern