Fernsprecher & Spruchträger

Januar 1999, Transitgalerie Berlin / 30 Wohnungen
January 1999, Transitgallery Berlin / 30 Flats

    Die Galerie mit den Telefonnummern
 

The visible surface of this project was made up of phone numbers, each leading to a flat in Berlin in which an art work had been installed. Each of these art works included a traditional proverb. The proverb, its appearance in the art object, and its location in the flat were chosen or invented by the occupier of the flat: from an engraved brass sign to a home page, anything was possible. The participants were provided with Karl Simrock's 1846 collection of proverbs and various possible ideas for setting the proverb. For a period of two weeks, those interested could call the numbers, chat with the occupants of the flat, and perhaps set up a viewing date. At the gallery exhibition, the visitors only saw these phone numbers.

Sichtbare Oberfläche dieses Projektes waren Telefonnummern. Hinter jeder Nummer stand eine Wohnung, in der ein Objekt installiert worden war. Allen Objekten gemeinsam ist, daß sie ein klassisches Sprichwort umsetzen. Dieses Sprichwort, seine Erscheinungsform und seine Plazierung wurde von den BewohnerInnen selbst ausgewählt oder erfunden: Vom gravierten Messingschild bis zur Homepage war alles möglich. Zur Verfügung stand die Sprichwortsammlung Karl Simrocks von 1846 mit 12.396 Sprichworten und ein Katalog mit Anregungen für die formale Umsetzung der Spruchträger. Für zwei Wochen der Projektdauer bestand die Möglichkeit, die Telefonnummern zu wählen, mit den Wohnugsinhabern in Kontakt zu treten und vielleicht einen Besichtigungstermin zu vereinbaren.
 
 

 

Bildschirmschoner
"Bedenke, warum du hier bist"

Screensaver
"Think about why you are here."
 


Schild, PVC, 20 x 30 cm
"Wie du mir, so ich dir."

Sign, PVC, 20 x 30 cm
"What you do for me, I will do for you."
 

 

 

 

 

 

Liebe Freunde, sehr geehrte Damen und Herren;

es fällt mir nicht leicht, eine Ausstellung zu eröffnen, in der es nichts zu sehen gibt. Wir können uns an die fünfziger Jahre erinnert fühlen, als Jahn Cage mit seinem Klavierstück "4.33" die vom Publikum produzierten Geräusche zu seiner Komposition erklärte, oder gar argwöhnen, daß es sich um eine Wiederholung des Handstreichs von Yves Klein handele, in dem er die Pariser Bourgeoisie zur Vernissage lud, und sie dort mit sich selbst konfrontieren ließ, da es rein gar nichts zu sehen gab. So ist es hier hingegen nicht, denn an der Wand befinden sich linear hintereinander aufgereihte Telefonnummern. Sie bezeichnen jedoch nichts, da wir nicht wissen, zu wem sie gehören.

Interessanterweise findet sich in der konkreten Poesie Horst Bieneks aus den sechziger Jahren ein literarisches Pendant zu unserem Fall. Er deklarierte den Anfang des Berliner Telefonbuches zum Gedicht, gab allerdings nur die Namen, nicht aber die Nummern wieder. Namen ohne Nummern bleiben nur Namen, sowie auch Telefonnummern ohne Namen zunächst nur Nummern sind. Man kann Quersummen daraus bilden, man kann sie zusammenzählen und ähnliches. Auf der anderen Seite sind sie ein Angebot und ein Versprechen. Die Frage ist ja:  Wer verbirgt sich hinter der Nummer? Genau darum geht es, das ist Schrats Aufforderung an uns.

Auch dieses Projekt ist ein Teil des "A9 Projektes" Berlin - München /München - Berlin, unterscheidet sich aber gleichzeitig ganz wesentlich davon. Agierte Schrat bisher im öffentlichen Raum, so an einer Autobahnraststätte, in der Wiener Innenstadt oder eben auf der titelgebenden A9 - wobei dieser größte Projektteil in der Ausführung bisher an den politischen Entscheidungsträgern scheiterte - so ist er jetzt nicht nur wieder in Berlin, sondern auch im Privaten angekommen. Wir befinden uns also gleichzeitig am Abfahrts- und Ankunftsort. Die bisherigen Projekte kombinierten tagesaktuelle Schlagzeilen mit ewigwährenden Sprichwörtern, die der 1846 veröffentlichten Sprichwortsammlung Karl Simrocks, dem Gebrüder Grimm der deutschen Sprichwörter und Volkslieder, entstammen. Simrock hat 12.396 Sprichwörter gesammelt. Sie beginnen mit: "Wer A sagt muß auch B sagen" und enden mit "Du mußt lange zürnen ehe du jemandem ein Bein abzürnst". Man kennt Sprichwörter und sie kommen immer ungelegen, da sie immer letzte Wahrheiten verkünden. Das letzte Sprichwort kennen wir hingegen nicht, so wie wir überhaupt nur noch fünf Prozent des von Simrock Zusammengetragenen kennen. Vieles ist im Laufe der Zeit verlorengegangen, einiges wäre noch zu entdecken. Bei diesem Projekt haben wir es jetzt ausschließlich mit Simröcken zu tun und selbst für die ist Schrat nur noch teilweise verantwortlich. Er hat Teilhaber an diesem Projekt, die sich auf die Entdeckungsreise durch Simrocks Sammlesurium der letzten Weisheiten begeben haben, und eben diese sind die Besitzer der Telefonnummern. Schrat hat also weder im öffentlichen noch im privaten Raum eine Setzung gemacht sondern er hat einen Rahmen geschaffen. Dieser Rahmen war zunächst der Simrock, aus dem die Beteiligten sich ein Sprichwort auswählen sollten. Dahinter lauerte auch die Frage: Wie geht man mit den Dingen um, die man nicht versteht, denen man wiederbegegnet oder die man gar wiederfindet, und wie bezieht man sie auf sich? Damit aber war es nicht genug, denn die Beteiligten mußten auch einen Ort für das von ihnen ausgewählte Sprichwort finden. Es gibt also nicht nur eine Rückführung des Projektes an seinen Ausgangsort Berlin, und eine Verschiebung vom Öffentlichen zum Privaten, sondern auch eine Verschiebung der Verantwortung, da alle Beteiligten Verantwortliche oder sogar Träger von Simröcken sind. Grundlegend ist aber auch hier die Frage nach dem Raum, denn gerade private Räume unterliegen ha nicht nur einer notwendigen Nutzung, sonderen sich individuell gestaltet und damit Ausdrucksträger.

Hier befinden wir uns in einem halböffentlichen Raum, denn eine Galeriesituation ist immer ein halböffentlicher Raum, der in unserem Fall auch nur ein Start sein kann. Die Funktion dieses Raumes heute abend - im Gegensatz zu Yves Kleins Attacke - ist der einer Kontaktbörse. Denn es fragt sich natürlich, welche Person hinter welcher Nummer steckt, so daß der Raum hier auch nur ein Rhamen sein kann, in dem wir die Köpfe zu den Nummern suchen müssen. Wenn wir uns dann an de Arbeit machen, die Nummern zu nutzen, die uns zu den Objekten führen können, werden auch die Räume, in denen sich sich befinden, zu öffentlicheren. Mit dieser Aufforderung möchte ich  jetzt zum Ende kommen, denn von Simrock weiß ich auch: "Worte sind gut, aber Hühner legen Eier".

Kolja Kohlhoff